Rousseaus Du contrat social war epochemachend in seiner Argumentation, dass das Recht legitimerweise nur vom souveränen Volk ausgeht, das für sich selbst Gesetze erlässt: vom allgemeinen Willen. Rousseau stand in der Tradition des Gesellschaftsvertrags von Thomas Hobbes (1588-1679), John Locke (1632-1704) und anderen, suchte aber nach einer Form der politischen Vereinigung, in der sich von Natur aus freie Individuen mit anderen zusammenschließen können und dennoch so frei bleiben wie zuvor. Seine Lösung war die direktdemokratische Selbstgesetzgebung, bei der jeder Bürger als Mitglied des Souveräns Gesetze erlässt, die für alle gleichermaßen gelten. „Jeder von uns stellt seine Person und seine ganze Kraft gemeinsam unter die oberste Leitung des allgemeinen Willens; und in einer Körperschaft empfangen wir jedes Mitglied als einen unteilbaren Teil des Ganzen“ (Contrat social, I.6). Rousseau hat ein radikal voluntaristisches Prinzip als verbindliche Kraft der politischen Gemeinschaft in Dienst gestellt. Er erkannte zwar eine „universelle, allein der Vernunft entspringende Gerechtigkeit“ an, argumentierte aber, dass diese Gerechtigkeit mangels einer natürlichen Sanktion unwirksam sei (Contrat social, II.6). Rousseaus allgemeiner Wille beschränkte sich auf die Grenzen des Staates.
„Der allgemeine Wille ist immer richtig“, behauptete Rousseau. Seine Aussage ist oft als eine Art mystischer Volkswille aufgefasst worden, in dessen Namen die Staatsgewalt ausgeübt werden kann. Der allgemeine Wille ist nicht etwas, das über den Staat hinausgeht, sondern der Wille der Bürger qua Bürger in ihrer Eigenschaft als Mitglieder des Souveräns. Unmittelbar nach der Behauptung, dass der allgemeine Wille immer richtig ist, weist Rousseau auf das hin, was er als das zentrale Problem des Staates ansieht: „Daraus folgt aber nicht, dass die Überlegungen des Volkes immer die gleiche Richtigkeit haben“ (Contrat social, II.3). Das Volk kann sich in seinen Überlegungen aus verschiedenen Gründen irren, aber die Geradlinigkeit des allgemeinen Willens wird vor allem durch die natürliche Tendenz der Individuen verzerrt, den besonderen Willen, den sie als Individuen haben, zu Rate zu ziehen. „In der Tat kann jeder Einzelne als Mensch einen privaten Willen haben, der dem allgemeinen Willen, den er als Bürger hat, widerspricht oder von ihm abweicht. Sein privates Interesse kann ganz anders zu ihm sprechen als das allgemeine Interesse.“ Ein solcher Mensch, so Rousseaus berüchtigte Schlussfolgerung, „wird gezwungen sein, frei zu sein“. Während diese paradoxe Aussage als autoritäres Element in Rousseaus Denken gedeutet wurde, ist die Fortsetzung der Passage weniger beachtet worden: „Denn dies ist die Bedingung, die, indem sie jeden Bürger an das Vaterland bindet, ihn gegen jede persönliche Abhängigkeit garantiert“ (Contrat social, I.7). Die gegenseitigen Verpflichtungen des politischen Verbandes sorgen dafür, dass die Bürger nur von dem Gesetz abhängig sind, das sie selbst geschaffen haben, und nicht vom Willen eines anderen Individuums (siehe Melzer). Das Recht muss von allen kommen und für alle gleichermaßen gelten. Der allgemeine Wille ist aufgrund seiner Allgemeinheit immer auf die gemeinsame Gerechtigkeit und den gemeinsamen Nutzen gerichtet: „Der allgemeine Wille muss, um wirklich ein solcher zu sein, sowohl in seinem Gegenstand als auch in seinem Wesen allgemein sein; er muss von allen ausgehen, um für alle zu gelten“ (Contrat social, II.4). Eine angemessene staatsbürgerliche Erziehung und günstige egalitäre Bedingungen sind notwendig, damit die Überlegungen der Bürger die nötige Geradlinigkeit aufweisen, um den allgemeinen Willen über die Partikularinteressen triumphieren zu lassen. Die Selbstgesetzgebung als Teil des Souveräns ermöglicht eine neue Art von Freiheit, eine bürgerliche und moralische Freiheit, die über die natürliche Freiheit hinausgeht, die wir als Individuen haben. Rousseaus allgemeiner Wille inspirierte seine Anhänger mit dem, was sie als Versprechen einer revolutionären moralischen und politischen Umgestaltung sahen.