BIBLIOGRAPHIE
Perspektivenübernahme – das Betrachten der Welt von einem anderen als dem gewohnten Standpunkt aus – umfasst ein breites Spektrum, das vom Wortsinn bis zur Metapher reicht. Man kann buchstäblich eine visuelle Perspektive einnehmen, indem man sich physisch positioniert und in eine bestimmte Richtung blickt, wobei man oft die physische Position und die Blickrichtung einer anderen Person nachahmt, um zu sehen, was diese Person sieht (z. B. „Stell dich hier hin und du kannst den Turm zwischen den Hügeln sehen“). Alternativ kann man sich eine bestimmte visuelle Perspektive vorstellen (z. B. „Diese Stufen müssen für jemanden, der so klein ist wie ein Kleinkind, sehr hoch aussehen“) oder gedanklich eine visuelle Perspektive konstruieren (z. B. „Mal sehen … wenn ich nach Osten schaue, kann ich das Haus sehen, wenn ich also nach Westen schaue, sehe ich die Straße“). Perspektivübernahme geht jedoch oft über das Visuelle hinaus und bezieht sich auf den Versuch, eine allgemeine Haltung einzunehmen, die sich von der eigenen Standardhaltung unterscheidet („Stellen Sie sich vor, was der Rabbi gedacht haben muss, als die Caterer all diese Tabletts mit Schinken herausbrachten!“ oder „Ich verstehe, was Sie meinen – Sie hätten sich mehr Zeit für die Vorbereitung nehmen können“).
Ein Eckpfeiler der Theorie der kognitiven Entwicklung des Schweizer Entwicklungspsychologen Jean Piaget (1896-1980) war, dass menschliche Kleinkinder nur eine Perspektive haben – ihre eigene. Sie sind zutiefst egozentrisch, d. h. sie können nicht einmal begreifen, dass jemand anderes eine andere geistige Erfahrung als sie selbst haben könnte, und sind daher nicht in der Lage, die Perspektive einer anderen Person einzunehmen. Im Laufe ihrer Entwicklung lernen Kinder nicht nur, dass es andere Perspektiven gibt, sondern auch, wie sie diese Perspektiven einnehmen und nutzen können. Kinder, die erkennen können, dass andere Menschen einen eigenen Verstand haben und somit andere Perspektiven einnehmen können, haben eine Theorie des Geistes entwickelt. Bei einem sich typischerweise entwickelnden Kind bildet sich eine kohärente Theorie des Geistes zwischen dem dritten und fünften Lebensjahr heraus (auch wenn Rudimente dieser Fähigkeit, wie z. B. das Verfolgen des Blicks einer anderen Person, um zu verstehen, was diese Person sieht, schon früher auftreten). Defizite bei der Theory of Mind und der Perspektivenübernahme gehören zu den charakteristischen Symptomen von Autismus, einer psychischen Störung, die in der Regel schon früh im Leben auftritt (auch andere psychische Störungen oder Hirnverletzungen können Defizite bei der Perspektivenübernahme hervorrufen).
Einige Wissenschaftler haben argumentiert, dass ein echtes Verständnis der Theory of Mind möglicherweise nur bei der menschlichen Spezies vorhanden ist. Doch selbst für erwachsene Menschen ist die Perspektivübernahme mit Anstrengung verbunden und stellt eine Herausforderung dar. Eine einfache oder vollkommen korrekte Perspektivenübernahme wird durch das „Problem der anderen Köpfe“ behindert, d. h. wir können aus der Ich-Perspektive nie genau wissen, wie die Dinge von einer anderen Person mit einem anderen Geist wahrgenommen werden.
Die Perspektivenübernahme hat eine Reihe von sozialen Auswirkungen. Sowohl bei Kindern als auch bei Erwachsenen wird die Perspektivenübernahme mit größerer Empathie, prosozialem Verhalten und einer günstigeren Behandlung der Person (oder Gruppe), deren Perspektive eingenommen wird, in Verbindung gebracht. Der genaue Mechanismus, durch den die Perspektivenübernahme diese Ergebnisse hervorruft, ist umstritten, wobei verschiedene Möglichkeiten vorgeschlagen werden, darunter die Unterdrückung der üblichen „Ich“-Perspektive, der verstärkte Wunsch, der anderen Person zu helfen, Versuche, negative Gefühle zu lindern, die durch die Wahrnehmung einer anderen Person in Not ausgelöst werden, und die kognitive Verschmelzung der eigenen Darstellung des Selbst mit der der Person, deren Perspektive übernommen wird. Die Forschung zeigt immer wieder, dass die Anweisung, die Perspektive einer anderen Person in Not einzunehmen, zu verstärkten Gefühlen des Mitgefühls und der Empathie führt und oft in Hilfsangeboten für die Person mündet, deren Perspektive eingenommen wurde. Die Perspektivenübernahme kann jedoch auch zu böswilligen Zwecken eingesetzt werden (z. B. indem man den nächsten Schritt eines Rivalen vorhersieht und Schritte unternimmt, um ihn zu vereiteln).
Seit Piagets Zeiten haben Entwicklungsforscher (z. B. Janet Astington, Simon Baron-Cohen, John Flavell, Alison Gopnik, Andrew Meltzoff, Joseph Perner und Henry Wellman) immer wieder Fragen zur Perspektivenübernahme und ihrer Beziehung zu anderen Aspekten der menschlichen Entwicklung gestellt. Auch Sozialpsychologen haben sich mit der Perspektivenübernahme und ihren Auswirkungen auf das Sozialverhalten beschäftigt (insbesondere Daniel Batsons Arbeit über den Zusammenhang zwischen Perspektivenübernahme und altruistischem Verhalten und William Ickes‘ Arbeit über die Genauigkeit von Erwachsenen bei der Einschätzung der Gedanken anderer). In jüngster Zeit haben Neurowissenschaftler (z. B. Jean Decety) bildgebende Verfahren des Gehirns eingesetzt, um die Perspektivenübernahme zu erforschen.
Siehe auch Empathie; Piaget, Jean; Rollentheorie; Theory of Mind
BIBLIOGRAPHIE
Flavell, John H. 1992. Perspectives on Perspective Taking. In Piaget’s Theory: Prospects and Possibilities, eds. Harry Beilin and Peter B. Pufall, 107-139. Hillsdale, NJ: Erlbaum.
Sara D. Hodges