Wie man Gemälde liest: Die Kunst der Malerei von Johannes Vermeer

Eine subtile und komplexe Allegorie auf die Tugenden der Malerei

Christopher P Jones

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Jun 3, 2020 – 6 min read

Die Kunst der Malerei (1666-1668) von Johannes Vermeer. Öl auf Leinwand. Kunsthistorisches Museum, Wien. Bildquelle Wikimedia Commons

Das erste, was an Vermeers bemerkenswertem Bild Die Kunst der Malerei auffällt, ist der Wandteppich, der an der linken Seite des Gemäldes hängt. Man beachte, wie er wie ein Vorhang zur Seite gezogen und von einem Stuhl zurückgehalten wird.

Die Wirkung des Vorhangs besteht darin, die Szene vor uns zu enthüllen, fast wie ein Bühnenbild, wenn der Vorhang gelüftet wird. Das Wort für diese Technik ist repoussoir: ein Objekt in einem Gemälde, das im Vordergrund und an einer Seite positioniert ist und dazu dient, die Aufmerksamkeit des Betrachters auf das Hauptthema des Werks zu lenken.

In diesem Gemälde ist Vermeers Einsatz des Vorhangs nachdrücklich: Er zieht uns erfolgreich in den Raum dahinter, betont die Tiefe des Raums und ermutigt uns, das Gefühl zu haben, dass wir hineinschauen.

Und da sich der hellste Bereich des Gemäldes – das dünne Dreieck der weißen Wand im hinteren Teil des Raumes – direkt hinter dem Vorhang befindet, ist es Vermeer gelungen, die Tiefe des Raumes zu betonen und unseren Blick sanft auf das weibliche Modell, den zentralen Punkt des Gemäldes, zu lenken.

Detail aus „Die Kunst der Malerei“ (1666-1668) von Johannes Vermeer. Öl auf Leinwand. Kunsthistorisches Museum, Wien. Bildquelle Wikimedia Commons

Hinter dem Vorhang besteht das Gemälde aus mehreren Schichten. Da ist die nahe Tischkante mit den farbigen Tüchern, die über die Seite hängen; dann, weiter vorne, der Künstler an seiner Staffelei; dann das Modell, das am anderen Ende des Tisches steht; und schließlich die Wand mit der riesigen Landkarte.

Der Zweck dieser Schichten ist es, die illusionistische Wirkung des Gemäldes zu erhöhen. Als Betrachter blicken wir hinter den Vorhang und in den Raum, in dem ein zweites Gemälde entsteht. Dieser Schichtungseffekt führt uns tatsächlich zum eigentlichen Thema des Werks, das aus einem subtilen Zusammenspiel von Symbolen und Anspielungen besteht, die zusammen eine Allegorie der Malerei selbst suggerieren.

Im Mittelpunkt des Gemäldes steht zweifellos das Modell: eine junge Frau in blauem Gewand, die an einem Fenster steht. Die Brillanz von Vermeers Technik, die Auswirkungen des Lichts einzufangen, wird hier durch die Art und Weise demonstriert, wie der Schein des Fensters aus der oberen linken Ecke des Gemäldes diffundiert, ohne das Fenster selbst zu zeigen.

Das Modell ist mit mehreren Gegenständen beladen, die darauf hindeuten, dass sie als allegorische Figur posiert. Sie trägt einen Lorbeerkranz auf dem Kopf, hält in der rechten Hand eine Trompete und in der linken ein Buch. Wahrscheinlich ist sie als Clio, die Muse der Geschichte, gekleidet. Die Musen waren die Göttinnen der kreativen Inspiration. Im Laufe der Zeit wurde ihre Zahl auf neun festgelegt, und jede repräsentierte einen Einflussbereich auf die Gelehrsamkeit und die Künste.

Detail aus „Die Kunst der Malerei“ (1666-1668) von Johannes Vermeer. Öl auf Leinwand. Kunsthistorisches Museum, Wien. Bildquelle Wikimedia Commons

Es ist möglich, Clio an den Gegenständen zu erkennen, die sie in der Hand hält: Der Lorbeerkranz steht für die Ehre und den Ruhm der Geschichte, die Trompete für den Ruhm und das dicke Buch, möglicherweise von einem Historiker wie Herodot oder Thukydides, spielt auf das Wissen über die Vergangenheit an. Diese Attribute entsprechen der Beschreibung von Clio in Cesare Ripas Buch Iconologia aus dem 16. Jahrhundert, einem sehr einflussreichen Text, der beschreibt, wie Künstler Mythen und Allegorien durch Embleme und Symbole darstellen sollten.

Die Szene, die wir hier betrachten, zeigt also einen Künstler, der ein Porträt eines Modells malt, das als Muse der Geschichte verkleidet ist.

Auf dem Tisch vor dem Modell liegt eine Maske, wahrscheinlich als Symbol der Nachahmung und damit als Attribut der Malerei. Zusammen mit den anderen Gegenständen auf dem Tisch – den Stoffstücken, einem Folianten, einem Stück Leder – kann man sie als Kollektivsymbole der Freien Künste sehen. Das heißt, die Naturwissenschaften, die Sozialwissenschaften, die Künste und die Geisteswissenschaften.

Detail von ‚Die Kunst der Malerei‘ (1666-1668) von Johannes Vermeer. Öl auf Leinwand. Kunsthistorisches Museum, Wien. Bildquelle Wikimedia Commons

Der Künstler sitzt an seiner Staffelei im Mittelgrund des Gemäldes. Er steht mit dem Rücken zu uns, so dass wir denselben Blick haben wie er. Wir können auch einen Blick auf das Gemälde werfen, an dem er gerade arbeitet, und sehen, dass er mit der Lorbeerkrone begonnen hat.

Indem Vermeer das Gesicht des Künstlers verbirgt, verleiht er ihm eine universelle Qualität. Vor allem trägt er teure Kleidung, ein elegantes schwarzes Wams, das mit Schlitzen am Rücken und an den Armen verziert ist. Mein Lieblingsdetail ist das Paar roter Strümpfe, das er trägt und das gerade unter der Sitzfläche seines Hockers zu sehen ist.

Was geht hier vor sich? Worauf laufen diese Sammlungen von Gegenständen und Symbolen hinaus?

Die Vermischung der Bezüge lässt vermuten, dass Vermeer die Tugenden der Malerei mit dem Fluss der Geschichte verbinden wollte. Und Vermeer stellt den Künstler in den Mittelpunkt dieser Bewertung.

Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass Vermeer zu einer Zeit lebte, als die Kategorie der „Historienmalerei“ – die Themen aus der griechischen und römischen Geschichte, mythologische, biblische und historische Szenen umfasste – weithin als die edelste Form der Malerei angesehen wurde.

Vermeer war selbst kein Historienmaler, aber durch dieses Gemälde deutet er an, dass Künstler wichtige Transkriptoren der Geschichte sind. Darüber hinaus kann Kunst vielschichtig sein, sie kann schichten, sie kann beschreiben und verweisen, sie kann darstellen und vorführen – wie das Spiel der Symbole in diesem Werk beweist. Kurz gesagt, die Kunst der Malerei ist eine Feier der Talente des Künstlers.

Und es gibt noch mehr…

Der Raum

Die Idee der Bedeutung der Geschichte – und die Fähigkeit des Künstlers, sie zu erfassen – wird durch die Geschichte unterstrichen, die durch die große Karte erzählt wird, die an der Wand am Ende des Raumes hängt.

Detail von „Die Kunst der Malerei“ (1666-1668) von Johannes Vermeer. Öl auf Leinwand. Kunsthistorisches Museum, Wien. Bildquelle Wikimedia Commons

Die Karte zeigt eine Ansicht der Niederlande. Sie wurde von dem niederländischen Kartographen Claes Jansz Visscher angefertigt. Wenn man sich die Karte genau ansieht, kann man erkennen, dass unsere alltägliche Ansicht der Niederlande um 90 Grad gedreht wurde, so dass Norden auf der rechten Seite und Süden auf der linken Seite gezeigt wird.

Detail aus „Die Kunst der Malerei“ (1666-1668) von Johannes Vermeer. Öl auf Leinwand. Kunsthistorisches Museum, Wien. Bildquelle Wikimedia Commons

In der Mitte der Karte ist ein deutlicher Schatten zu erkennen, der den Norden vom Süden trennt und der sich wunderbar mit der Patina der Knicke und Falten vermischt, die sich im Laufe der Zeit natürlich bilden. Dieser Schatten entspricht im Großen und Ganzen der politischen Teilung des Territoriums, die 1648 nach dem Vertrag von Münster stattfand, der die niederländische Republik im Norden und die südlichen Provinzen unter spanischer Kontrolle der Habsburger beließ.

Auch der von der Decke hängende Messinglüster nimmt Bezug auf die jüngsten historischen Ereignisse: Die Form ähnelt einem doppelköpfigen Adler, dem kaiserlichen Symbol der Habsburger.

Vermeer wollte mit dem Gemälde möglicherweise eine Art Prunkstück schaffen, mit dem er besuchende Gönner beeindrucken konnte. Es war eines der größten Gemälde, die er je schuf: mit 120 x 100 cm war es nach seinem Christus im Haus von Martha und Maria das zweitgrößte Gemälde.

Außerdem verkaufte Vermeer das Gemälde zu Lebzeiten nie. Selbst als er starb, weigerte sich seine Witwe, es den Gläubigern zu überlassen, obwohl sie und ihre Kinder mit erheblichen Schulden zurückgeblieben waren.

Als Maler war Vermeer zu Lebzeiten nur mäßig erfolgreich. Er schuf relativ wenige Gemälde, von denen die meisten häusliche Interieurszenen wie Die Kunst des Malens zeigen. Seine heutige Popularität zeugt von der Makellosigkeit seiner Technik, seiner Fähigkeit, den Raum so brillant zu beleuchten und ihn gleichzeitig mit winzigen Details zu füllen, die die Phantasie des Betrachters anregen.

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Christopher P. Jones ist Schriftsteller und Künstler. Er bloggt über Kultur, Kunst und Leben auf seiner Website

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